
„Tomorrow’s Harvest“ ist kein Album, das sich anbiedert. Es ist ein Werk, das den Hörer eher auf Distanz hält, ihn beobachtet, statt ihn zu umarmen. Und genau darin liegt seine Qualität: Boards of Canada haben 2013 ein Spätwerk vorgelegt, das weniger Rückkehr als Neubestimmung ist – düsterer, karger und konzeptionell strenger als alles, was sie zuvor veröffentlicht haben.
Nach dem warm flirrenden „Music Has the Right to Children“ und dem eher träumerischen „The Campfire Headphase“ wirkt „Tomorrow’s Harvest“ wie eine Dämpfung im eigenen Universum. Die vertraute analoge Patina ist noch da – das Bandrauschen, die leicht verstimmten Synths, diese eigentümliche, körnige Textur, die klingt, als würde man alte Bildungsfernsehen-Mitschnitte auf abgenutzten VHS-Kassetten schauen. Aber die Stimmung hat sich verschoben: Wo früher kindliche Nostalgie und psychedelische Verklärung dominierten, herrscht hier Endzeitdiagnose, gespenstische Leere und ein Gefühl technischer, ökologischer und gesellschaftlicher Überreizung.
Schon der Auftakt mit „Gemini“ und „Reach for the Dead“ definiert diese neue Ausrichtung. Die Harmonien sind nach wie vor melodisch, aber sie wirken „entvölkert“ – als hätte man die fröhlichen Bilder aus der Erinnerung entfernt und nur das Hintergrundrauschen der Welt übrig gelassen. Die Rhythmik ist zurückgenommen, beinahe stoisch, mehr Puls als Beat. Immer wieder tauchen Anklänge an Soundtrack-Musik der späten 70er und frühen 80er auf: Vangelis, John Carpenter, frühe Nature-Dokumentationen, kalte Überwachungsästhetik – all das scheint durch die Ritzen des Klangbildes zu sickern.
Statt klarer Songstrukturen gibt es eine Abfolge von Vignetten, Fragmenten, Miniaturen. Stücke wie „White Cyclosa“, „Cold Earth“ oder „Jacquard Causeway“ wirken wie Satellitenbilder einer verwundeten Erde: distanziert, aber auf fatale Weise konkret. Man „sieht“ beim Hören fast die vergilbten Farben, Überbelichtungen und leeren Landschaften, die die Musik impliziert. Boards of Canada arbeiten hier meisterhaft mit Andeutungen: kurze melodische Motive, die nur angerissen werden; Akkordwechsel, die bewusst ins Leere führen; Rhythmen, die eher wie Maschinenprozesse als wie »Groove« wirken.
Im Zentrum des Albums steht eine atmosphärische Spannung zwischen Nostalgie und Untergang. „Tomorrow’s Harvest“ klingt, als würde jemand in der Zukunft auf Archive einer vergangenen Zukunft blicken – auf all die optimistischen Zukunftsbilder der 60er bis 80er Jahre, die in Werbefilmen, Dokus und Bildungsprogrammen zu sehen waren, und erkennen, wie wenig davon eingelöst wurde. Dieser Meta-Blick macht das Album zu mehr als nur „düsterer Electronica“: Es ist eine Meditation über gescheiterte Zukunftsversprechen, über Fortschrittsglauben, der in Katastrophenszenarien umgeschlagen ist.
Besonders eindrucksvoll ist, wie konsequent das Duo diese Vision im Sounddesign umsetzt. Die Synthesizer klingen oft wie verfallene Architektur: monumental, aber brüchig. Die Flächen haben etwas Smoghaftes, sie legen sich wie ein milchiger Schleier über alles, ohne jemals komplett klar zu werden. Auch der Umgang mit Dynamik ist bemerkenswert subtil: Das Album kennt kaum spektakuläre Höhepunkte, sondern arbeitet mit langsam an- und abschwellenden Spannungsbögen, die eher filmisch sind als „songorientiert“. „Palace Posy“ etwa bietet einen der zugänglichsten Momente, bleibt aber dennoch in dieser entrückten, unheimlichen Sphäre.
Inhaltlich – soweit man bei einem überwiegend instrumentalen Album davon sprechen kann – geht es weniger um konkrete Themen als um Zustände: Überwachung, Umweltzerfall, technokratische Kälte, das Verschwinden des Menschlichen aus den Bildern. Die Tracktitel – „Transmisiones Ferox“, „Split Your Infinities“, „Sundown“, „Collapse“ – verstärken dieses Gefühl einer allmählichen, aber unausweichlichen Desintegration. Die Musik verweigert den Trost; sie kommentiert nicht, sie zeigt.
Gerade diese Konsequenz könnte für einige Hörer auch zum Problem werden. Im Vergleich zu früheren Alben gibt es weniger eingängige Motive, weniger sofort wiedererkennbare „Hooks“. „Tomorrow’s Harvest“ ist ein langsames Album, das seine Wirkung schichtweise entfaltet. Beim beiläufigen Hören kann es gleichförmig, fast hermetisch wirken. Hier entscheidet sich vieles an der Bereitschaft, sich auf die Atmosphäre einzulassen und das Fehlen klassischer Spannungsbögen als künstlerische Aussage zu akzeptieren.
Als Teil der Diskografie von Boards of Canada markiert das Album eine Art Kipppunkt: Es bündelt viele ihrer bekannten Elemente – die analoge Ästhetik, die Faszination für Archivbilder, die gebrochene Nostalgie – und treibt sie in eine deutlich radikalere, dystopische Richtung. Wer in „Geogaddi“ vor allem die dunklen Untertöne mochte, findet hier so etwas wie die konsequente Fortschreibung; wer an „Music Has the Right to Children“ vor allem die Wärme und den „Kindheitsfilter“ schätzte, wird sich in dieser ausgedörrten Klanglandschaft womöglich weniger zuhause fühlen.
Im Kontext der elektronischen Musik der 2010er Jahre ragt „Tomorrow’s Harvest“ zudem durch seine Zeitlosigkeit heraus. Während viele Produktionen dieser Ära sich stark an aktuellen Trends orientierten, klingt dieses Album bewusst aus der Zeit gefallen – nicht retro im nostalgischen Sinn, sondern wie ein Artefakt aus einer Parallelvergangenheit. Diese eigentümliche Zeitversetztheit verleiht ihm eine Langlebigkeit, die auch Jahre nach Erscheinen kaum an Wirkung verloren hat.
Unterm Strich ist „Tomorrow’s Harvest“ ein beeindruckend geschlossenes, visuelles Album – ein dystopischer Film ohne Bilder, der im Kopf des Hörers abläuft. Es ist weniger zugänglich als die Klassiker im Katalog von Boards of Canada, aber dafür konzeptionell schärfer und atmosphärisch dichter. Wer bereit ist, sich auf diese karge, giftig schimmernde Klangwelt einzulassen, findet hier eines der reifsten und nachhallendsten Werke moderner elektronischer Musik.